Wir-Gefühl – Willkommen im Alltag – Amerika fast zwei Wochen nach der Wahl
Es ist Freitagabend am Golf von Mexiko. Hier an der Westküste Floridas, wo die Sonne heiß und das Wasser auch im November noch beinahe badewannenwarm ist, beginnt jetzt das abendliche Kneipenleben. Die im kitschigen Key-West-Style dekorierten Biergärten mit ihren rosa Flamingos, Ananas-Lichterketten, Alligatorlampen und aufblasbaren Palmen schaffen es nicht, die Gäste fernzuhalten; hierzu bedarf es Live Musik. Heute macht uns eine dreiköpfige Combo zu schaffen, die jeden noch so glücklich in Vergessenheit geratenen Evergreen aus dem Repertoirköfferchen hervorzaubert und in die – eigentlich herrliche, grillenbezirpte, zutiefst romantische – Nacht hinausbläst.
Na ja, das Essen ist gut.
Zur Musik, gegen die sich die Gäste des Etablissements nach Kräften durch immer lauteres Gesprächsbrüllen zur Wehr zu setzen versuchen, kommt noch – nahezu unvermeidlich in jedem amerikanischen Restaurant – die flackernde Lichterpracht von acht ausgewachsenen TV-Bildschirmen, die gefühlte zwölf Sender gleichzeitig ausstrahlen. Glücklicherweise ohne Ton. Niemand schaut hin, keinen interessiert’s, aber die Dinger laufen.
In einer so durch und durch reizüberströmten Atmosphäre friedlichen Feierabendplausches lernen wir am Nachbartisch einen freundlichen Mann kennen, der sich als Fred vorstellt. Fred kommt aus Canada, lebt seinen Ruhestand hier in Florida nach Kräften aus und hat viel zu erzählen. Und es passiert, was immer passiert, wenn man sich hier mit jemandem unterhält: Er oder sie hat garantiert eine deutsche Großmutter, wurde in Deutschland geboren, war in Deutschland stationiert oder hat mindestens schon mal München gesehen. How nice! Fred hat vor vierzig Jahren in Mainz und Berlin gearbeitet.
Nun.
Im Tagesverlauf hatten wir mitbekommen, dass an diesem Abend die NASA wieder mal eine Rakete ins All schießt – Nachschub für die Raumstation, die irgendwie völlig unbemerkt und inzwischen selbstverständlich über unseren Köpfen kreist. Freds Begeisterung über unser Interesse an diesem geschichtsträchtigen Gebiet amerikanischer Technik und Forschung war kaum zu zügeln. Auf einem der Fernseher wurde der Start dann pünktlich um 19.55 Uhr übertragen; gemeinsam mit Fred sahen wir zu.
Dann die Krönung: Unser neuer Freund packte mich am Arm, drehte mich gen Osten, und da war sie: live und rot-golden leuchtend stieg die Rakete als ein kleiner Punkt in den tiefschwarzen Abendhimmel, geradewegs auf den Vollmond zu (optisch zumindest). Die Nacht war so klar und Cape Canaveral nur etwa 150 Kilometer entfernt. Wir staunten, kreischten, jubelten – eine Handvoll Leute raste auf den Parkplatz und klatschte der Rakete zu. Start erfolgreich absolviert – was für ein Erlebnis!
Nun, zumindest für uns. Drei Viertel der Restaurantgäste haben von der ganzen Sache gar nichts mitbekommen. Irgendwie werden selbst so unglaubliche Dinge wie Raumfahrt und Raketenstarts mit der Zeit Gewohnheit. Ich bin nur froh, dass ich zum anderen Viertel gehörte!
Warum ich das erzähle? Es zeigt einmal mehr, wie unterschiedlich dieses Volk ist – auf der einen Seite in der schon erwähnten Oberflächlichkeit verhaftet, auf der anderen Seite herrlich spontan, mitreißend, enthusiastisch. Als das Raketenpixel schließlich verschwunden war, drückte Fred uns die Hände und sagte: “Schön, dass wir das hier zusammen erleben konnten!” Finde ich auch.
Inzwischen ist auch in Deutschland ein Raketenstart nur noch eine Randmeldung in den Nachrichten. Aber immerhin wird noch darüber berichtet. Hier in Amerika vermisse ich Nachrichten aus aller Welt sehr. Der Informationshorizont der Amerikaner verläuft unmittelbar entlang ihrer Staatsgrenzen – nur hin und wieder (und nur aus aktuellem Eigeninteresse) durchbrochen von Nachrichten aus Afghanistan, Israel oder dem Irak. Während wir Deutschen dagegen eine deutlich gesättigte Mischung von Nachrichten aus allen nur möglichen Regionen der Welt präsentiert bekommen, werden hier ganztägig die immergleichen Nachrichten wiedergekäut. CNN ist da nur einer der Ganztags-Informationskanäle im amerikanischen TV-Dschungel, und die Sendezeit muss ja gefüllt werden. Da sollte man meinen, dass hin und wieder auch ein Blick über den heimischen Tellerrand hinaus erfrischend und belebend wäre. Aber in dieser Hinsicht sind die Amerikaner sich selbst absolut genug.
Und so ergehen sich besagte Nachrichtenwiederkäuer nun auch unablässig in Spekulationen über die vom zukünftigen Präsidenten Obama zu besetzenden Kabinettsposten. In einer Art Endlosschleife werden die Namen der rein spekulativ gehandelten Kandidaten rauf- und runtergenannt, abgewogen, analysiert und – natürlich – kritisiert. Die Stimmung erinnert auf merkwürdige Weise an Heiligabend: alle sind bis zur Nervenentblößung gespannt, was aus den großen und kleinen Päckchen zum Vorschein kommen wird, und die Wartezeit wird mit größtmöglicher Spekulation überbrückt. Heiteres Berufe-Raten auf amerikanisch.
Und dabei tut Herr Obama gut daran, sich seine Mitstreiter in Ruhe auszusuchen. Erstens übernimmt der sein Amt in einer schwierigen welt- und innenpolitischen Lage, und zweitens lauern natürlich alle auf seine ersten Fehler. Wie die Menschen so sind: Pannen und Kritisierbares rufen mehr Energie auf den Plan als notwendiges Zupacken und Miteinander. Schade eigentlich. Aber kein amerikanisches Problem, sondern ein Zeitgeist-Phänomen.
Noch bleiben dem President-elect 67 Tage bis zur Amtsübernahme. Und die akribische Informationseinholung über zukünftige Mitarbeiter mittels eines ausführlichen, siebenseitigen Auskunftsfragebogens ist nur eines der Themen, die hier kontrovers diskutiert werden. Wichtige Themen in jeder Nachrichtensendung sind neben den anstehenden politischen Irrungen und Wirrungen dieses in mehrerer Hinsicht angeschlagenen Landes die Fragen nach der Schulwahl des zukünftigen Präsidenten für seine beiden Töchter und – natürlich – welchen Hund die beiden kleinen Prinzessinnen mit ins Weiße Haus bringen dürfen. Denn den haben sie sich redlich verdient während eines Wahlkampfes, der ihren Daddy rund um die Uhr beschäftigt hielt. Und das wird nicht besser werden, wenn sie erst in Washingtons Pennsylvania Avenue wohnen.
Der Alltag, der für einen Moment nach der Wahl den Atem angehalten hatte, ist wieder eingekehrt in Amerika. Geschichte steht eben nicht still. Sie wird geschrieben – jeden Tag.
kb.