Reisezeit.
Gerade ist die Kaffeemaschine als letzter Vorposten des heimischen Herds vom Stromnetz gegangen, Müll ist entsorgt, Kühlschrank runtergedreht, Blumen entweder gegossen oder bereits zuvor eigenhändig totgepflegt, alle Fenster und Türen zu – es kann wieder losgehen! Wieder einmal liegen über zwei Monate USA vor mir, und ich bin gespannt, was diesmal im Land der Burger und Government Shutdowns auf mich wartet.
Soviel ist sicher: öffentliche Einrichtungen werde ich zumindest in den nächsten Tagen – ja, vielleicht Wochen – nicht zu sehen bekommen. Ebenso wie ich sind nämlich tausende Beamter und Offizieller sozusagen „auf Befehl von ganz oben“ in Urlaub. Meine Obrigkeit heißt Familie – die der anderen Präsident Obama. Nun, für mich ist die ganze Sache zum Glück freiwillig.
Für die amerikanische Wirtschaft – und nicht nur die – ist dieser fiskale Stillstand ein absolutes Desaster – zumal in Amerika bekanntermaßen Abertausende ebenso von mehreren Jobs als auch allzuoft von der Hand in den Mund leben und schon ohne Einflussnahme des Senats kaum über die Runden zu kommen wissen. Diese Menschen, die „ordinary people“, trifft das alles am meisten. Aber das ist ja eigentlich wie immer: Politik funktioniert im Wasserfallprinzip – es rauscht knallhart von oben nach unten. Überall auf der Welt. Oben wird entschieden, und unten schlägt’s ein.
Doch wirklich verstehen werde ich das wohl nie.
Macht ist eben immer noch der hartnäckigste Klebstoff der Welt – leider verklebt er auch verdammt schnell die normallogischen Funktionen des menschlichen Gehirns. Warum ist es den erwachsenen Männern und Frauen der politischen Weltbühne eigentlich nicht möglich, gemeinwohle Einigungen zu erzielen, ohne dass es gleich in Erpressungsversuche ausartet? Warum muss Macht – kaum, dass man sie irgendwie auch nur riecht – grundsätzlich zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden? Und warum eigentlich zu 99% zum Negativen?
Es ist schon erstaunlich, welche Kräfte frei werden, wenn es um die Erzwingung eigener Ziele geht. Politisch wie überall im Leben. Und dabei wäre es so einfach, diese Kräfte stattdessen Gutes bewegen zu lassen.
Gleicher Aufwand – weitaus besseres Ziel.
Na ja, ich weiß schon, warum ich kein Politiker geworden bin.
Böse Zungen sagen, ich sei stattdessen von Beruf Urlauberin. Stimmt nicht. Jedenfalls nicht ganz. Und doch: wer darf schon bei Meeresrauschen am Golf von Mexiko mit Blick in die graugrüntürkise Unendlichkeit arbeiten? Wer hat das Glück, auch am heimischen Schreibtisch im eigenen Leuchtturm mitten in einer Postkarte zu sitzen, während sich – und das ist natürlich auch bei mir so – die angefangenen Projekte auf dem Schreibtisch stapeln und sich mit jeder Menge Bürokratie und Unerfreulichem verbünden… wobei ich mich gerade frage, ob die Letzteren eigentlich zwei oder eine Kategorie sind.
Na egal. Zunächst mal gibt’s Neues aus den USA – wenn ich denn mal dort ankomme.
Diesmal beginnt der Input nämlich schon unterwegs, und das alte Sprichwort: „Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben.“ bewahrheitet sich bereits auf dem Frankfurter Rollfeld.
Der schwergewichtige Herr, der trotz meines freundlichen Protestes seinen Claim auf meinem Sitzplatz abzustecken und sich in Windeseile häuslich einzurichten beginnt (übrigens inklusive Butterstulle-Auspacken – man weiß ja nie, ob man in diesen neumodischen Fluggeräten etwas zu essen bekommt) trollt sich zwar auf seinen eigentlich gebuchten Platz, schüttelt aber noch eine ganze Weile trotzig den Kopf, selbst als die Stewardess ihn noch einmal freundlich über seinen Irrtum aufklärt. Eigentlich wär’s mir ja egal: sein Platz ist gleich nebenan, auf der anderen Seite des Ganges, aber ich würde halt doch gerne neben meinem eigenen Mann sitzen… neun Stunden Flugzeit vergehen deutlich kurzweiliger, wenn man hin und wieder mal ein vertrautes Wörtchen miteinander wechseln oder gar aus spontanem Überschwang heraus Händchen halten kann…
Irgendwie überzeugt die Stewardess den stullemampfenden Zeitgenossen doch noch, sein inzwischen neu entstandenes Schlachtfeld auf der anderen Seite des Ganges zu belassen (die Spuren seines Kurzaufenthalts auf meiner Seite hat er großzügigerweise mir hinterlassen), und nachdem ich dann schließlich alle Krümel und Butterflecken von meinem Sitz gekratzt habe, soll ich mich auch schon anschnallen.
Na gut.
Der elegante silberne Vogel ist in der Luft, der Service beginnt, und schon geht’s wieder los:
Kaum hat Vatti die Gesundheitssandalen von den braunen Socken geschubst, wird gleich mal die Stewardess rangeläutet. Ob’s denn da gar nix zu tringe gäb’, fragt er uff hessisch – ganz Weltmann und Vielflieger. „Ja, selbstverständlich. Die Kolleginnen haben soeben mit dem Service begonnen“, antwortet das blaugelbe Kostüm freundlich. „Na, bei mir nisch – des sehen Se ja wohl!“ raunzt er sie an. Wir wechseln einen kurzen Blick – „Das wird ein langer Flug“ steht uns beiden in die Linsen gelasert.
Nun, zumindest bietet sich von nun an ein non-stop Unterhaltungsprogramm von links – und wenngleich das Ganze weder sehens- noch hörenswert ist, sieht und hört man’s ja doch. Wissen Sie, wie lang neun Stunden sein können??!
Dafür erlebe ich aber auch wirklich alle erdenklichen Methoden, sich wahlweise die Nebenhöhlen oder Gehörgänge von Verstopfungen aller Art zu befreien, tröpfchensprühend in die Gegend zu niesen oder zu husten, sämtliche Essensreste im Umkreis von einem Meter um einen einstmals sauberen Sitzplatz zu verteilen, Schmatzen und Rülpsen inklusive (über den Rest erspare ich mir und Ihnen Druckerschwärze und Bildschirmpixel). Doch vor allem anderen weiß ich jetzt, wie man sich so richtig volllaufen lässt. Drei Bierchen vorweg „zum Zische“, zwei Cola-Rum „zum vorm-Esse“ und im weiteren Verlauf neun stolze Kübelchen Wein – „is’ legger de Riesling, escht legger“ – werden von dem ungehobelten Klotz vertilgt, während er es scheinbar genießt, die freundlichen Kostümträgerinnen in Bewegung zu halten.
Zum Glück schläft er dann auch mal für eine Stunde ein.
Ruhe kann ja so ein Segen sein…
Erst jetzt habe ich Gelegenheit, mich gedanklich auch mal mit den anderen Fluggästen zu beschäftigen: es ist wie immer ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der da gemeinsam auf engstem Raum die Reisezeit verbringt. Einige schlafen in teils chiropraktisch höchstbedenklichen Haltungen, dazwischen Gesichter, die von den TV-Monitoren gespenstisch-flackernd erleuchtet sind, das Pärchen ganz hinten unterhält sich in Murmellautstärke – für einen Moment ist alles friedlich.
Aber wie immer drängt sich mir beim Betrachten dieser Reisegruppe eine Frage auf: Warum in Gottes Namen lieben es die meisten dieser Menschen so sehr, neun (oder ja durchaus auch mehr) Stunden inmitten einer Müllhalde zu verbringen?
Vatti nebenan (inzwischen übrigens wieder wach und mit seinen Nebenhöhlen beschäftigt) mal außenvor gelassen: auch andere, sehr viel weltmännischer und gebildeter wirkende Kandidaten hier drinnen hinterlassen regelmäßig einen wahren Saustall aus zerfledderten Zeitungen, Plastik- und Bonbonverpackungen, benutzten Taschentüchern, wild verstreutem Knabbergebäck und sonstigem Müll auf und um ihren Sitzplatz. Beim Aussteigen am Zielflughafen sehen die meisten Sitzplätze aus, als hätten wir eine Notlandung hinter uns, in der alles Unterste nach oben gekehrt und anschließend noch einmal kräftig durchgeschüttelt wurde.
Ich denke dann immer an die Reinigungscrew, die gleich nach uns hier anrückt. Haben die das eigentlich verdient?
Sie sind die Unsichtbaren, die hinter den Kulissen schuften und für uns den Dreck wegmachen, damit der nächste Fluggast – vielleicht Sie? – wieder alles sauber und ordentlich vorfindet.
Ich bin wahrlich kein Fremdschämer, eher toleranter Drüberwegseher und soll-jeder-machen-wie-er-will-Denker. Aber ich finde, ein wenig Rücksicht im Umgang miteinander wäre (auch hier) sehr wünschenswert. Rücksichtnahme ist nun wirklich eine Tugend, auf die man sich ganz einfach besinnen kann – ohne großen Aufwand, aber mit sehr großer Wirkung. Und mal ehrlich: wenn Sie Ihren Arbeitsplatz so verdreckt vorfinden würden, wäre Ihr Tag doch auch gelaufen, oder?!
Aber Menschen wie mein Reisenachbar pfeifen dann halt den nächstbesten Bediensteten ran und lassen für Ordnung sorgen – und da sind wir dann wieder bei Macht, beim Oben und Unten, beim Wasserfallprinzip und nicht zuletzt beim verklebten Gehirn. Und da sag nochmal einer, Politik wäre nicht das Spiegelbild der Gesellschaft.
© Karin Buchholz
Oktober 2013.