Provence Today 7 – Gesichter im Gepäck
Langsam heißt es wieder die Habseligkeiten im Koffer verstauen, einen Tisch für den letzten Abend reservieren und feierlich Abschied nehmen von einer kurzen, aber intensiven Zeit in der Provence. Schön war’s, und wenn ich mir meine Urlaubsfotos so anschaue, sehe ich viele Erinnerungen, Orte und Gesichter: fröhliche, archetypische, knurrige, verwitterte, strahlende und nicht zuletzt steinerne.
An vielen Häusern habe ich verwunschene Figuren entdeckt: Drachen, Schlangenwesen, wasserspeiende gargouilles in abwechselnd drohender oder verträumter Pose. Sie bewachen Hauseingänge, observieren Besucher von den Dächern aus, lugen aus Erkern oder Brunnen hervor… Gesichter, die tausendundeine Geschichte erzählen, so wie meine Fotosammlung auch.
Ein Bild allerdings bleibt mir besonders in Erinnerung:
In einer Zeit, die uns alle mehr denn je über Flüchtlinge, Fremdsein (das eigene ebenso wie das der Neuankömmlinge), andere Völker und Kulturen nachdenken lässt, rücken Menschlichkeit und Begegnung wieder stärker in den persönlichen Fokus. Auch Begegnungen fernab der Flüchtlingsproblematik. Begegnungen von Menschen, deren Wege sich zufällig irgendwo kreuzen, und die für einen Moment einfach einen gemeinsamen Nenner haben.
In den Restaurants entlang meiner kleinen kulinarischen Route der letzten Tage findet sich dieser gemeinsame Nenner naturgemäß für die Dauer einer Mahlzeit. Den meisten reicht dabei die Herausforderung einer Bestellung in fremder Sprache als Begegnung und Austausch völlig, und man bleibt anschließend wieder schön für sich. Andere kommen in Kontakt, und sei es manchmal auch nur lächelnder Blickkontakt.
An dem Abend, von dem ich erzählen möchte, teilen wir uns das Restaurant mit allerlei fremdsprachlichen Ungewöhnlichkeiten: zwei Isländer sowie eine sechsköpfige norwegische Familie sorgen für erfreuliche Abwechslung im Klangbild; dazu die üblichen Engländer und Amerikaner (meist gut und laut herauszuhören), ein paar Deutsche und Franzosen.
Ganz zuletzt erscheint ein kleines, schüchternes Paar aus Japan, das sich unter wiederkehrenden Verbeugungen und unerschütterlichem Lächeln an den zugewiesenen Tisch vorarbeitet, sich flüsternd unterhält und insgesamt um Unsichtbarkeit bemüht ist. So sehr, dass sie schon wieder auffallen. Lange Zeit beschäftigen sie sich mit dem Menü – immer wieder von zwitschernden Diskussionen, Kopfschütteln und Nicken unterbrochen. Mit einigen Hindernissen, vielen Händen und hinreißender Mimik bestellen sie schließlich zweimal Rind aus dem Tontopf. Non merci, keine Vorspeise. Non merci, kein Dessert. Die Weinkarte wird noch einmal genauso lange beäugt, dann folgt ein resignierter Seufzer und die ernüchternde Bestellung von eau minérale. Unschwer zu erkennen, dass die beiden weniger sprachlich als finanziell überfordert sind und nun gerade das Äußerste aus ihrem Reisebudget herausgekitzelt haben.
Aber die Freude und Begeisterung, mit der sie sich im Lokal umschauen, jede Kleinigkeit der liebevollen Dekoration entdecken, sich gegenseitig darauf aufmerksam machen und so offensichtlich ihr Hiersein genießen, ist schlicht hinreißend herzerwärmend. Sie lachen – leise natürlich –, fassen sich immer wieder bei den Händen und sind so ansteckend aufgedreht und glücklich, dass sich ihnen niemand im Umkreis entziehen kann. Auch nicht das französische Ehepaar, das am Nachbartisch (also zwischen uns und den Japanern) sitzt.
Zeitgleich mit dem Dessert für die Franzosen wird den Japanern ihr boeuf serviert, und man kann die Erwartungsfunken in den Augen der beiden sehen. So geht Vorfreude auf gutes Essen – auch der Koch hätte seine Freude! Dazu das begleitende eau minérale. Bon appétit! In diesem Moment steht der Franzose auf, greift nach seiner noch halbvollen Rotweinflasche, schnappt sich kurzerhand zwei Weingläser vom frisch eingedeckten freien Nachbartisch und tritt an den Tisch der Japaner heran. Mit gebrochen-frankophilem Englisch macht er den beiden erstaunten Gesichtern Asiens klar, dass er ihnen den Rest seines Weins überlässt – er und Madame seien ja schon beim Dessert angelangt. Und es sei doch vraiement une faute de goût – eine wahre Sünde wider den guten Geschmack – ein so köstliches Rind ohne Rotwein zu genießen! Das wäre trop, trop dommage, wirklich zu, zu schade! Als echter Franzose könne er so etwas unter gar keinen Umständen zulassen!
Tausend Verbeugungen, Händeschütteln, Lachen, nochmal Verbeugen folgen, und es fehlt eigentlich nur noch, dass wir alle applaudieren. Das mag den schüchternen Japanern aber dann doch niemand zumuten. Wir begnügen uns mit allseitigem Gläsererheben und vielen dicken Klößen in den Hälsen.
Wie wunderbar. Hochprozentige Völkerverständigung – in doppeltem Sinne. Und obendrein zwei strahlende Gesichter für meine Erinnerungssammlung.
Mein Herz habe ich dann allerdings am letzten Tag an ein steinernes Gesicht verschenkt: Ein wenig grimmig beobachtete er mich schon eine ganze Weile von seiner Position neben einem Marseiller Hauseingang aus, während ich mich mit meinem Kaffeebecher in der Hand durch die schmale Altstadtstraße näherte. Die Stirn gerunzelt – wegen mir? – aber dabei so freundlich dreinblickend und die Nase verschmitzt gekräuselt… So einen wohlgesonnenen Hausgeist hätte ich auch gern an meiner Tür! Inmitten dieser Stadt, die mich in ihrer ansteckenden Hektik und Vielfältigkeit regelrecht zu verschlingen droht, ist er ein unerwartet friedlicher Anblick. Mit einem Blick durch meine Kamera nehme ich mir sein Lächeln mit…
Diese Stadt hat viele Gesichter – steinerne ebenso wie lebendige aus aller Herren Kulturen. Und als wäre das Gewimmel und Gewusel ringsum nicht schon genug, erzeugt eine riesige Spiegeldecke an der Hafenpromenade auch noch eine himmlische Kopie. Eine Welt, die ebenso auf dem Kopf steht, wie die reale.
Auf dem nächtlichen Weg zurück zum Hotel lernen die Bilder dann noch einmal auf andere Weise Laufen: Eine der sommerlichen Lieblingsbeschäftigungen vieler Franzosen ist es, uralte Schwarzweißfilme unter freiem Himmel auf großen Leinwänden anzuschauen, dabei zu picknicken, mindestens aber eine Flasche Wein zu genießen (alles andere wäre ja auch, wie wir wissen, eine Sünde wider den guten Geschmack!) und in knisternder Nostalgie zu versinken. Meist ist der Ton so verzerrt, dass man von dem Knisterschinken so gut wie nichts versteht, aber darum geht’s auch gar nicht. Es geht um la vie en rose – das schöne, rosarote Leben. Und wo ginge das besser als hier im Süden Frankreichs?
Vive la France!