Seit einiger Zeit schwirren mir Kinderbuch-Figuren und -Geschichten durch den Kopf, die unbedingt aufs Papier purzeln wollten…

2009 und 2010 war es dann soweit: Zwei Bücher sind entstanden. Sie spielen in der Vorweihnachtszeit und begleiten die großen und kleinen Leser durch die Adventszeit bis hin zum Heiligen Abend.

Es sind jeweils zwei Geschichten pro Buch – die erste von ihnen liest sich wie ein Adventskalender : jeden Tag setzt sich die Geschichte ein wenig fort. Die Kinder lieben das und spekulieren jeden Tag aufs Neue, wie es wohl weitergeht… Am 23.12. endet diese Geschichte, aber am Heiligabend gibt es eine ganze(!) neue Geschichte, in der wir auch den Figuren der Adventsgeschichte wieder begegnen….

Mehr soll hier nicht verraten werden, außer ein paar kurze An-Leseproben, die ich hier zum Appetitholen eingestellt habe.

Also: einfach mal reinschnuppern in die Weihnachtszeit…


Die Geschichte vom alten Holzschnitzer Lorenzo


Der alte Lorenzo lebt in einem winzigen Dörfchen im Norden Italiens, in dem kleine, windschiefe Häuser sich aneinander-kuscheln und in dem die Gassen so eng sind, dass hier keine Autos fahren können. Wie in alten Zeiten werden schwere Dinge mit Holzkarren oder kleinen Pferdewagen transportiert – alles andere trägt man in Taschen oder Körben umher.

Das Dorf schmiegt sich in eine winzige Bucht und eine lange, sich eng dahinwindende Straße führt hierher, von der im Winter kaum jemand Notiz nimmt. Im Sommer ver­schlägt es bisweilen ein paar Touristen hierher, die in den kleinen Lädchen des Ortes Kunsthandwerkliches und Landes­typisches erwerben und die stille Schönheit der Bucht mit ihren Fischerbooten genießen. Ein Restaurant gibt es, am kleinen Hafen gelegen, das einfache Hausmannskost serviert, aber die Zeiten sind schwer und das Leben ärmlich.

Um das Dorf herum sind die steilen, steinigen Wiesen der Viehbauern gelegen, auf denen im Sommer die Kühe und Schafe grasen, dahinter erheben sich die felsigen Hügel, die sich ins Landes­innere ziehen.

Im Winter dann wird es ganz still in Gimittiano-Campo, fast so still wie im Kloster oberhalb des Dorfes, in dem ein knappes Dutzend Nonnen dem kargen Boden ihre Kräuter- und Gemüseernten abtrotzen.

Hier hat Lorenzo sein ganzes Leben verbracht und nichts würde ihn je von hier fortziehen. Von seinem Vater erlernte er das Handwerk des Tischlers und Schreiners, doch es gab immer weniger zu tun, seit die Menschen ihre Möbel in der Stadt kauften. Und neue Häuser wurden in Gimmittiano-Campo schon seit langem nicht mehr gebaut. So hatte Lorenzo zunächst als Zeitvertreib mit dem Schnitzen be­gonnen, zum einen, weil ihm die Arbeit mit dem Holz so viel Freude machte, zum anderen, um nicht den ganzen Tag un­tätig herumzusitzen. Und er hatte Talent: Schon bald zeigte sich, dass seine kleinen Schnitzereien von besonderer Aus­druckskraft waren, und zunächst wurden die Dorfbewohner, dann mehr und mehr auch die Touristen auf seine Arbeiten aufmerksam. Der junge Lorenzo und seine Schnitzereien waren bald wohlbekannt in der ganzen Gegend, und für eine Weile ließ es sich – wenn auch nicht in Saus und Braus – aber doch bescheiden und glücklich von den verschiedenen Arbeiten leben.

Inzwischen war Lorenzo alt geworden. Seine Frau, Maria, war vor vier Jahren gestorben, und der Alte war nie wirk­lich darüber hinweggekommen. Sein Sohn, Filippo, war schon früh dem Dorf entwachsen – alles war ihm hier zu einfach, zu primitiv, zu eng… Gleich nach der Schule war er nach Florenz gegangen und hatte dort eine Lehre in der Weberei eines Cousins seines Vaters begonnen, die ihn aber schon allzu bald langweilte. Kurzerhand hatte er zunächst diese und dann noch mehrere andere Anstellungen an den Nagel gehängt, bis er schließlich in einem Exportbüro für Uhren ge­landet war, wo für ihn der „Duft der weiten Welt“ wehte. Schon bald waren das kleine Dorf und sein Vater gänzlich vergessen und nur selten – nur noch, wenn er Geld oder etwas anderes brauchte – meldete er sich überhaupt noch daheim, und das Herz des alten Lorenzo war langsam und schmerzhaft daran zerbrochen.

In den ersten Monaten war Lorenzo in der alten Gewohn­heit vieler, langer Jahre jeden Morgen am Strand entlang und dann in einem weiten Bogen bis hinauf an die Wald­grenze oberhalb des Dorfes gewandert und hatte Holz für seine Schnitzereien gesammelt. Er hatte die Fähigkeit, schon in dem unbearbeiteten Stück Holz eine Figur zu erkennen, eine Form, die die Natur dem Material vorgegeben hatte, einen Schwung, eine Linie, die ihm eingab, was daraus zu schnitzen war. Stets hatte ihn das Schnitzen beseelt und erfreut – es war herrlich, in den eigenen Händen etwas entstehen zu sehen, etwas zu formen und zu schaffen, das mehr und mehr Gestalt annahm, mit jedem Messerschnitz..

Die Menschen, die seine Schnitzereien sahen, waren begei­stert und kauften meist mehr als nur ein Stück, und so arbeitete Lorenzo in seiner Werkstatt oft stundenlang und ohne Pause, um Filippos Weggang zu vergessen. Dabei hatte er übersehen, dass auch Maria, seine Frau, jetzt sehr einsam war; viel zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt gewesen, und als sie schließlich nach langen Jahren des Kummers und der Einsamkeit krank wurde und innerhalb weniger Wochen starb, war das Haus des alten Lorenzo schrecklich still und leer. Sein Leben und seine Arbeiten machten weder Freude noch Sinn, und so türmten sich irgendwann die Holzfunde in seiner kleinen Werkstatt nur noch nutzlos aufeinander. Lorenzo hatte die Freude an seiner Arbeit verloren. Nur noch selten nahm er sich ein Stück Holz, schnitzte lustlos und ohne wirklich hin­zuschauen daran herum, um es dann schon bald mit den übrigen Holzresten in seinem Ofen zu verbrennen. Auch die Spaziergänge änderten sich. Hatte ihn seine Holzsuche oft stundenlang auf den Beinen gehalten, so machte Lorenzo jetzt höchstens einen kurzen Gang hinunter zum Hafen, setzte ich müde auf eine Bank und sah mit starrem, aus­druckslosem Blick den Booten zu, die an der kleinen Mole auf den Wellen schaukelten.

Seine Nachbarin, Signora Carlotta, versuchte ihn aufzu­muntern, bot ihm abwechselnd Hilfe und Gesellschaft an, wollte für ihn kochen und backen (was er stets ablehnte) und wurde nicht müde, von seinen herrlichen Schnitzereien zu schwärmen. Doch schließlich gab auch sie resigniert auf.

„Mit gebrochenem Herzen ist nicht gut schnitzen“, hatte Lorenzo müde gesagt, und fortan zog er sich immer mehr in sein kleines Haus zurück, in dessen Werkstatt immer seltener Licht brannte. Er ging kaum noch hinaus – nicht einmal in die Kirche – und verbrachte die Tage damit, von seinem Sessel aus hinauszuschauen auf eine stille und meist leere Dorfstraße. Jeder Tag glich dem anderen, und der alte Lorenzo hörte beinahe auf zu leben.

Doch nun hatte der Herbst Einzug gehalten in Gimmittiano-Campo, und ein kräftiger Wind wirbelte die Blätter in wildem Tanz durch die engen Dorfstraßen. Lorenzo war nach dem kargen Frühstück hinunter zum Hafen gegangen und hatte eine Weile auf seiner Bank ver­bracht, doch schließlich hatte ihn das unwirtliche Wetter vertrieben.

Gerade als er um die Ecke bog, an der der alte Guiseppe seine Bäckerei hat, fuhr ihn beinahe ein Junge auf seinem klapprigen Fahrrad über den Haufen. Es quietschte und krachte mächtig, Lorenzo konnte sich gerade noch in den Ladeneingang retten, da flog der Junge auch schon in hohem Bogen auf die Pflastersteine und blieb regungslos liegen.

Sofort stürzten Lorenzo und Guiseppe zu dem Jungen, drehten ihn vorsichtig auf die Seite, klopften gegen seine Wangen und riefen abwechselnd: “Mamma mia, Mamma mia! Junge, wach doch auf!“

Als der Junge schließlich ganz langsam und sichtlich verwirrt die Augen öffnete, stießen beide Männer laut und erleichtert die aufgestaute Luft aus ihren Lungen. Ganz offensichtlich war er un­verletzt und mit dem Schrecken davongekommen. Langsam rappelte er sich wieder auf die Füße – seine Knie waren etwas auf­geschürft, aber viel mehr schien ihn der Zustand seines Fahrrades zu interessieren. Das sah allerdings wirklich schlimm aus: Der Lenker war schrecklich verdreht und die Kette herausgeflogen, das vordere Schutzblech war verbogen und die Klingel rasselte scheppernd auf den Boden, als Lorenzo das Rad vorsichtig auf­richtete.

„Oh je“, seufzte der Junge, „Bitte, lieber Gott, lass das Rad nicht kaputt sein! Bitte, lieber Gott!“ Er betrachtete das Fahrrad von allen Seiten und kurbelte ein wenig hilflos an einem der Pedale.

„Das kriegen wir wieder hin“, hörte er Lorenzo sagen, der inzwischen neben dem Rad kniete und versuchte, die Kette wieder aufzuziehen.

„Wirklich?!“ fragt der Junge mit einem Flehen in der Stimme, das sofort Lorenzo’s Herz rührt. „Bitte – es DARF nicht kaputt sein!“

„Schon gut, schon gut“, beruhigte ihn nun der alte Guiseppe. „Lorenzo ist der beste Fahrrad-Reparateur, den ich kenne. Er kriegt das ganz bestimmt wieder hin!“

Hoffnung flackerte in den Augen des Jungen auf, und wenn­gleich Lorenzo nun wirklich nicht die geringste Ahnung von Fahr­rädern, geschweige denn davon hatte, wie man sie reparierte, nickte er zustimmend – nicht ohne Guiseppe einen langen, strengen Blick zuzuwerfen und unmerklich den Kopf zu schütteln.

Um Zeit zu gewinnen, sagte Lorenzo nun: „Aber ich brauche Werkzeug!“ Das klang wichtig und so, als hätte er Ahnung. „Wir müssen das Fahrrad in meine Werkstatt bringen, dann kann ich Dir helfen. – Hoffe ich“, setzte er mit einem erneuten langen Blick zu Guiseppe nach.

Guiseppe lachte und winkte den beiden zum Abschied zu. „Lorenzo ist der Beste!“ rief er dem Jungen noch einmal auf­munternd zu, bevor er in seinem Laden verschwand, und der alte Lorenzo schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass er den Jungen nicht enttäuschen müsste…

 

In der Werkstatt angekommen, blickte sich der Junge mit großen Augen um. „Das ist Deine Werkstatt?“ fragte er und seine Stimme klang, als würde er gerade Zeuge eines Wunders.

„Ja“, antwortete Lorenzo, während er nach seinem Werk­zeugkoffer Ausschau hielt. „Aber es ist eine Holzschnitzer-Werkstatt… keine Fahrrad-Werkstatt, weißt Du?“ Vielleicht sollte er den Jungen schon mal vorsichtig darauf vorbereiten, dass er KEIN Fahrrad-Reparateur war…

„Du bist Lorenzo, der Holzschnitzer?“ fragte der Junge aufgeregt, „Dann sind die Krippenfiguren in der Kloster­kapelle von Dir?“

„Ja, die sind von mir“, erwiderte Lorenzo, der inzwischen das Fahrrad auf den Kopf gestellt hatte und nun Hammer und Schraubenzieher in der Hand hielt. „Aber das ist lange her…“

„Und was schnitzt zu jetzt gerade?“ fragte der Junge weiter, während er die Regale betrachtete, in denen einige angefangene Werkstücke lagen.

„Jetzt gerade?“ fragte Lorenzo möglichst beiläufig. „Ach, nichts.“

„Gar nichts?“

„Nein, gar nichts.“ Lorenzo’s Tonfall hatte nun etwas End­gültiges, und so fragte der Junge erst einmal nicht weiter. Eine Weile wanderte er schweigend von Regal zu Regal und be­trachtete die staubbedeckten Figuren – den Hirten, dessen Mantel und Stab schon gut zu erkennen waren, während Hut und Gesicht noch unbearbeitet schienen; das Schaf mit nur drei Beinen; eine Kuh, der ein Ohr fehlte.

„Mist!“ Lorenzo ließ laut krachend den Schraubenzieher fallen, mit dem er versucht hatte, die Kette wieder auf das Zahnrad zu hebeln. Sein Finger blutete, und er steckte ihn sich kurzerhand in den Mund. „Ich brauche meine Brille! Und ich brauche Licht!“ verkündete er nun und stapfte aus der Werkstatt. Kurz darauf kam er zurück, jetzt mit Brille, und schaltete das Licht an. Zwei große, altmodische Lampen erleuchteten die Werkstatt taghell, und alle bislang im Dunkel verborgenen Schätze wurden sichtbar. Da stand auch ein ausgewachsenes Schaukelpferd, dessen Kopf und Hals mit wundervollen Schnitzereien verziert waren. Der Körper des Tieres jedoch war erst grob behauen und der Schweif noch ein einziger konturloser Holzblock.

„Das wird aber schön“, sagte der Junge und trat bewun­dernd näher. Sanft streichelte er den Kopf des Pferdes, und Lorenzo hielt einen Moment in seiner Arbeit inne. Schon lange war niemand mehr in seiner Werkstatt gewesen, aber für diesen Jungen hier schien es das reinste Wunderland zu sein.

„Wie heißt Du eigentlich?“ fragte Lorenzo, dem gerade in diesem Moment die Kette wieder auf das Zahnrad glitt. Zur Probe kurbelte er kräftig mit den Pedalen – ‚alles einwand­frei’, stellte er mit einem zufriedenen Lächeln fest.

„Tomaso“, antwortete der Junge. „Ich heiße Tomaso. Ich wohne im Kloster. Also im Internat vom Kloster. Also eigentlich im Weisenhaus… Meine Eltern… sie sind beide tot. Deshalb wohne ich da.“

 

… (Fortsetzung folgt) …

Die Geschichte vom Baumbrömi und der Grinsegans…


…beginnt am 24. Dezember.

Als der Baumbrömi erwacht, reibt er sich als erstes ein­mal kräftig die Augen mit seinen kleinen, runden Tatzen. Dann blinzelt er ein-, zweimal und reckt seinen kleinen Körper so lang er nur kann. Mit einem tiefen Bärenseufzer öffnet er schließlich die Augen, als er merkt, dass alles um ihn herum schaukelt. Das ganze Zimmer, eine kleine Stube mit hölzernen Stühlen, einer Bank und einem wuchtigen Holztisch in der einen Ecke, einem alten, abgesessenen Sofa, einem ebenso alten Sessel und einem geschnitzten Schaukel­pferd, schwankt, dass es dem kleinen Bären ganz mulmig zumute wird. Er schaut zu seinen Füßen, die frei in der Luft hängen und hin- und herschaukeln; dann schaut er nach oben und entdeckt an seinem Kopf ein rotes Band, mit dem er an einem dicken Tannenzweig hängt.

Aha, denkt der kleine Brömi, nicht die Stube schwankt, sondern ich – das ist lustig! Er nimmt noch einmal kräftig Schwung mit seinen kurzen Bärenbeinen und im Nu schwankt und schaukelt der kleine Kerl noch mal so wild und mit ihm der ganze Tannenzweig – nein: alle anderen Zweige am Baum be­ginnen jetzt auch zu schaukeln!

Der Baumbrömi schaut sich um. Da hängen außer ihm noch ganz viele Gestalten an den anderen Zweigen des Baumes, die nun ebenfalls kräftig hin- und herpendeln. Einige von ihnen werden nun auch wach und reiben sich die winzigen Augen; eine kleine schwarze Lokomotive am Zweig direkt neben ihm stößt einen erstaunten Pfiff aus und schaut sich mit großen, kugelrunden Scheinwerfer­augen im Zimmer um.

Neben ihr erwacht gerade ein Nuss­knacker und klappert einige Male zur Probe mit seinem großen Gebiss. „Haha!“ ruft er, „Weihnachten!“

„Entschuldigung?“ Der Baumbrömi schaut fragend zum Nussknacker herüber und versucht dabei ein bisschen weniger zu schaukeln. „Entschuldigung? Was bitte ist Weih­nachten? Und was machen wir hier?“

„Nun ja“, der Nussknacker räuspert sich ein paar Mal ge­räuschvoll und zieht seine Uniformjacke mit einem Ruck zurecht. „Heute ist Weihnachten. Das ist ein Fest, das einmal im Jahr gefeiert wird. Die Menschen stellen sich eine Tanne in die Stube und hängen Spielzeug und Kerzen hinein. Und dann feiern sie. Es gibt Kekse und Kuchen und Äpfel und Nüsse und meistens singen sie dann oder sagen Gedichte auf.“

„Das stimmt…:!“ pflichtet ein kleines Schaukelpferd zu seiner Rechten bei. „Und einige von ihnen erzählen sich auch Geschichten, und eine ganz besondere Geschichte lesen sie jedes Jahr vor. So eine Geschichte von einem kleinen Jungen, der an Weihnachten vor vielen, vielen Jahren ge­boren wurde.“

„Ja, eine sehr langweilige Geschichte“, murrt der hölzerne Brummkreisel über ihren Köpfen. „ – es kommen überhaupt keine Brummkreisel darin vor! Wirklich SEHR langweilig!“ Und zur Unterstützung seiner Worte brummt er ein wenig mit seinem dicken, runden Bauch vor sich hin.

„Es ist die Geschichte vom Jesuskind, das an Weihnachten geboren wurde und das Frieden auf die Erde gebracht hat“, trompetet die kleine hölzerne Trompete zwei Zweige unter ihnen. „Ich habe genau zugehört. Und es kommen Schal­meien in der Geschichte vor, das sind meine großen Ver­wandten, die die frohe Kunde in die Welt hinaus verkündet haben.“ Die kleine Trompete tutet stolz ein paar Töne und pendelt selbstzufrieden an ihrem Zweig.

„Haha! Dann ist es wohl Dein erstes Weihnachten, wie?!“ fragt der Nussknacker den Baumbrömi, der nur stumm nickt und sich noch immer im Zimmer umschaut. Ja, so etwas hat er wirklich noch nie gesehen. Aber… wenn er’s recht bedenkt, hat er eigentlich überhaupt noch nie etwas gesehen.

Doch in diesem Moment fliegt die Zimmertüre auf und ein Junge stürmt herein – an seinem Pullover und in seinem schwarzen Kraushaar hängen einige Holzspäne, er hat feuerrote Wangen und große, schwarze Augen. Aufgeregt kommt er zum Baum herüber und hängt eine weitere Figur mit einem roten Band an einen noch leeren Zweig. Es ist ein Hirte mit einem langen Mantel und einem Stab in seiner Hand, der gleich darauf den anderen freundlich zunickt.

Sofort saust der Junge zu­rück zur Tür und verstaut ein kleines Päckchen in der ober­sten Kommodenschublade. Kurz darauf ist er wieder ver­schwunden.

„Der ist aber früh auf den Beinen“, murrt der Brumm­kreisel. „Es ist doch noch dunkel.“

„Wann beginnt denn die Feier?“ erkundigt sich der Baumbrömi.

„Am Nachmittag, am Nachmittag“, tutet die kleine Trompete aufgeregt. „Immer wenn es dunkel wird, dann geht es los.“

„Und was passiert bis dahin?“

„Sie bereiten sich vor“, sagt der große Stern, der ganz oben auf dem Baum thront, mit tiefer, ruhiger Stimme. „Sie kochen und backen, sie verpacken ihre Geschenke und vor allem laufen sie sehr aufgeregt durch die Gegend.“

„Aha“, sagt der Baumbrömi und schaut sich weiter neu­gierig um. Das alles ist so spannend und so neu für ihn. Von Minute zu Minute wird er aufgeregter. Ein Fest! Heute feiern sie ein Fest! Er ist so gespannt, was er heute alles er­leben wird. Wie gut, dass er so früh aufgewacht ist! Er wird ganz genau acht geben, damit er auch ja nichts verpasst!

Wieder kommt der Junge herein. Diesmal geht er zu einem kleinen Herd in der Ecke mit dem Tisch und Stühlen hinüber, nimmt den Deckel von einem kleinen Topf und rührt den Inhalt mit einem großen Löffel um. Er muss sich dazu auf die Zehenspitzen stellen, damit er in den Topf hineinschauen kann. Nun stellt er einen alten verbeulten Wasserkessel auf die zweite Herdplatte und während die Hitze leise zischend unter den Kessel fährt, nimmt der Junge einen großen roten Becher aus dem Regal und gibt einen Löffel Tee hinein.

Scheinbar gibt es jetzt gerade nichts weiter zu tun, denn der Junge steckt die Hände in die Taschen seiner ausge­waschenen Latzhose und wartet. Er schlendert hinüber zum Baum, betrachtet die schaukelnden Figuren darin und pfeift leise vor sich hin. Der Baumbrömi weiß nicht recht, ob er ihn ansprechen soll. Wie der Junge wohl heißt? Doch gerade als er sich ein Bärenherz gefasst und tief Luft geholt hat, beginnt der Teekessel lauthals zu pfeifen. Viel lauter als die kleine Lokomotive vorhin.

Der Junge nimmt den Kessel vom Herd, schenkt den Tee­becher voll und trägt ihn aus dem Zimmer.

„Wer ist der Junge?“ fragt die Eule neben dem Nuss­knacker. „Ich habe ihn hier noch nie gesehen.“

„Ich auch nicht“, antwortet der Nussknacker. „Merk­würdige Sache! Seit der kleine Filippo von hier fort ist, war hier nie mehr irgendein Kind. Schon gar nicht an Weih­nachten! Sehr merkwürdige Sache!“

Die anderen nicken zustimmend mit den Holzköpfen und die kleine Lokomotive stößt noch einmal einen kurzen Pfiff aus.

„Dann seid Ihr schon länger hier?“ Der Baumbrömi schaut zur Eule und zum Nussknacker hinüber.

„Ja, schon SEHR lange“, erwidert die Eule. „Viele Jahre schon, und immer an Weihnachten erwachen wir zum Leben.“ Sie nickt würdevoll und lächelt. „Ich erinnere mich an viele schöne Weihnachtsfeste in diesem Haus…“ Sie seufzt und dann schweigt sie, tief in ihren Erinnerungen versunken.

„Ja, doch seit einigen Jahren ist es nicht mehr wie früher“, sagt nun der alte Trommler und schaut traurig in die Runde. „Der alte Lorenzo ist schon so lange allein, seit seine Frau tot und sein Sohn fortgegangen ist. Nie­mand feiert mehr mit ihm. Am letzten Weihnachtstag hat er uns nicht mal mehr in den Baum gehängt, wisst Ihr noch? Wir lagen da in dieser dunklen Schachtel und nichts passierte. Er saß einfach nur in seinem Sessel und hat die Wände angestarrt. Traurig. Sehr traurig war das.“ Und dem Alten fallen ein paar Tränen auf seine Trommel.

Alle schweigen einen Moment – dann aber tutet die Trompete fröhlich: „Aber dieses Jahr IST er ja nicht allein! Der Junge ist doch da!!“

„Ja, natürlich! Der Junge ist ja da“, stimmen nun auch die anderen ein und die Stimmung ist im Nu wieder fröhlicher.

„Und ein Geschenk hat er auch, das hab ich genau gesehen“, tutet die Trompete weiter. „Ich hab’s gesehen tut!tut! genau gesehen tut!tut!“

„Ja, ja, schon gut! Wir haben’s ja auch gesehen“, murrt der Brummkreisel, aber sein Brummen klingt jetzt schon ein wenig freundlicher.

Nun ertönt eine laute Glocke und alle im Baum sind ganz still. Sie hören, wie draußen eine Tür geöffnet wird, und dann hören sie Stimmen, die näher kommen. Schließlich kommen zwei Frauen zusammen mit dem Jungen ins Zimmer.

 

… (Fortsetzung folgt) …